LUCIUS ANNAEUS SENECA

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Leben und Werk

(nach: Seneca, epistulae morales ad Lucilium, Diskette des Verlags m-Soft;

          L. Annaeus Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, bearb. von Rohrmann/Widdra, Sturtgart 19841, S. 6)

 

Lucius Annaeus Seneca gehört zu den bedeutendsten und vielseitigsten Schriftstellern seiner Zeit. Das Leben des römischen Philosophen ist sehr bewegt und in man­chen Punkten nicht ganz aufgeklärt. Wahrscheinlich um das Jahr 4 v. Chr. - unter Kaiser Augustus -wurde Lucius Annaeus Seneca als Sohn eines römischen Rhetors, der offenbar sehr geschätzt war, in der südspanischen Stadt Corduba geboren. Die rhetorische Begabung und schriftstellerische Neigung hat er von seinem Vater, dem älteren Seneca, die Lust zum Philosophieren von seiner Mutter Helvia geerbt.

In früher Jugend begegnen wir der Familie in Rom. Dort sollte er nach Willen seines ehrgeizigen Vaters die übliche Ausbildung als Rhetor und Anwalt erhalten, um dann die Staatslaufbahn einzuschlagen. Unter dem star­ken Einfluß seiner Mutter wandte er sich aber bald dem Studium der Philosophie zu. Während der Studien kam er mit der stoischen Lehre in Berührung, die ihn zu ihrem fanatischen Jünger machte. Das harte aszetische Leben trieb er so weit, daß sich sein Gesundheitszustand lebensgefährlich verschlechterte. Sein Vater sah sich daraufhin gezwungen, ihn zu seinem Onkel, der in Ägypten Statthalter war, zur Erholung zu schicken. Unter dermütterlichen Fürsorge seiner Tante gesundete erwieder.

Nach längerem Aufenthalt in Ägypten beschritt er im Jahre 31 in Rom die Ämterlaufbahn. Unter Kaiser Tibe­rius sehen wir ihn zunächst als Rechtsanwalt mit großen Erfolgen als Prozeßredner und als Quästor. Wegen seiner Rednergabe zog er sich den Neid zweier Kaiser zu. Der gefeierte Redner sollte auf Betreiben von Caligula be­seitigt werden. Der kaiserliche Mordanschlag wurde aber nicht ausgeführt, da man Seneca wegen angeblicher Schwindsucht sowieso kein langes Leben mehr zubilligte. Unter Kaiser Claudius wurde ihm ehebrecherisches Ver­hältnis mit Julia Livilla, der Schwester des Caligula, vorgeworfen. Auf Betreiben der Messalina, der Gattin des Claudius, wurde er daraufhin im Jahre 41 n.Chr. nach Korsika verbannt.

Während dieser Zeit der Verbannung betätigte er sich wissenschaftlich und poetisch. Acht schwere Jahre mußte der kranke Mann auf der gefürchteten Insel leben. Erst auf Veranlassung der Agrippina, der Schwester der Julia Livilla und 2. Gemahlin des Kaisers Claudius, durfte der damals schon berühmte Schriftsteller im Jahre 49 aus dem Exil nach Rom zurückkehren. Dort wurde er zum Prätor (50) ernannt. Da er in diesem Amt das in ihn gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen wußte, wurde er wenig später sogar zum Lehrer und Erzieher des kaiserli­chen Prinzen Nero gemacht.

Die Stellung als Prinzenerzieher und Staatsmann (55/56 Konsul) bedeutete für Seneca Machtfülle. Er beherrschte dadurch für den noch nicht volljährigen und psychopathi­schen Nero den kaiserlichen Hof, den Senat, Rom und das gesamte Imperium. Dabei half ihm sein Freund Afranius Burrus, der Präfekt der kaiserlichen Garde. (Diese Jah­re galten später als die "goldene Zeit" der römischen Monarchie.) Der Einfluß auf den jugendlichen Kaiser schwand aber von Jahr zu Jahr. Seneca vermochte nicht mehr, Neros Exzessen entgegenzuwirken, und dadurch wuch­sen auch dessen Grausamkeiten.

Als Burrus starb (62 n.Chr.),- man nimmt an, daß er vergiftet wurde -, zog sich auch Seneca aus seiner Stellung zurück. In dieser Zeit der Abgeschiedenheit, den letzten drei Lebensjahren, konnte er seine philoso­phischen Werke reifen lassen, abrunden und vervollstän­digen. Kaiser Nero, der sich dem Einfluß Senecas immer mehr entzog und sich ihm entfremdete, bezichtigte diesen schließlich, an der Pisonischen Verschwörung gegen ihn im April des Jahres 65 beteiligt gewesen zu sein, und schickte ihm das Todesurteil ins Haus. In Anwesenheit seiner Freunde öffnete sich der Philosoph die Pulsadern (65 n.Chr.).

Was von seinen Werken der Nachwelt verblieben ist, läßt sich wie folgt zusammenfassen:

1)Philosophische Schriften,

bei denen die Ethik im Mittelpunkt steht: Es sind Prosaarbeiten der verschiedensten Art. Ob große und zusammenhängende Werke, ob Einzelabhandlungen bestimm­ter Themen, ob kürzere Gedankenskizzen in Briefen ­sämtliche Werke sollen keine Theorien entwickeln, son­dern praktisch wirken und helfen, das Leben zu gestal­ten.

Im einzelnen: (in Klammern das voraussichtliche Jahr der Veröffentlichung )

a) ZehnD i a l o g ein Zwölf Büchern:

  Ad Marciam de consolatione - Trostschrift an Marcia (39/40)
  De ira - Über den Zorn (drei Bücher 41)
  Ad Helviam matrem de consolatione - Trostschrift an die Mutter Helvia (42)

   Ad Polybium de consolatione - Trostschrift an Polybius (43/44)

   De brevitate vitae - Über die Kürze des Lebens (49)   

  De tranquillitate animi - Über die Gemütsruhe (53/54) 

  De constantia sapientis - Über die Standhaftigkeit des Weisen (55)

  De vita beata - Über das glückliche Leben (58)

  De otio - Über die Muße (62)De providentia - Über die Vorsehung (63) 

 

Folgende Werke zeigen ähnliche stilistische Merkmale wie die Dialoge, zählen aber nicht zu diesen:

b) Ad Neronem de clementia - An Nero über die Güte (56) 

c) De beneficiis - Die Wohltaten (60 ?)

d) Naturales quaestiones - Naturphilosophische Probleme (ab 62)

 

e) Epistulae morales ad Lucilium - Briefe an Lucilius über Ethik (ab 62)
Diese Sammlung mit 124 Briefen in 20 Büchern ist zwar unvollständig. Sie stellt aber das reifste Werk des Philosophen dar. Probleme des menschlichen Lebens werden darin aufgeworfen, wie u.a. Reichtum, Armut, Glück, Freundschaft, Bildung, Tod, Angstzustände und Freiheit.

 

2)Dichtung  

a) Tragödien: neun Werke. Sie unterscheiden sich von den griechischen Vorbildern, wenn sie auch nach griechischen Sagenstoffen gestaltet sind und Namen klassischer Tragödien tragen.

Die Titel: Hercules furens (Der rasende Herkules), Troades (Die Troerinnen), Phoenissae (Die Phönikerinnen), Medea, Phaedra, Oedipus, Agamemno, Thyestes, Hercules Oeteus (Herkules auf dem Öta).

b) Die V e r k ü r b i s s u n gdes Kaisers Claudius oder Satire auf den Tod des Claudius Nero: A p o c o l o c y n-t o s i s. Diese Schmähsatire ist eine Parodie auf die Apotheose des Kaisers Clau­dius. Hauptanlass zu dieser Schrift war sicherlich seine Verbannung auf die unwirtliche Insel Korsika.

c) Epigramme, die zwar Senecas Namen tragen, deren Echtheit aber bezweifelt wird.
 
 

Die Epistulae Morales

Senecas epistulae morales ad Lucilium sind philosophische Kurzabhandlungen über lebensnahe ethische Themen und wollen zu einer sittlichen Lebensführung erziehen. Ausgangspunkt seiner Briefe sind aktuelle Anlässe, aus dem sich das Hauptthema ergibt (Tod, Freude, Freundschaft...). Dabei geht Seneca immer von eigenen Erfahrungen aus, teilt diese Lucilius mit, damit dieser etwas für sein eigenes Leben entnehmen kann. 

Seneca hat statt philosophischer Traktate die Briefform gewählt, um seine philosophischen Aussagen, die mehr das praktische Handeln als spekulativ-theoretische Inhalte betreffen, zu vermitteln.

Die Briefe

- sind dialogisch gestaltet, charakteristisch ist der Du- und Wir-Stil, wodurch der Leser stärker angesprochen wird (appellativer Charakter);

- erleichtern durch den Verzicht auf eine philosophische Terminologie einen leichteren Zugang für den Leser (Alltagssprache);

- behandeln allgemein-menschliche Themen mit existentiellem, praktischem Bezug (Tod, rechte Lebensführung, Glück etc.). Es wird auf eine philosophische Systematik verzichtet;

- sind in ihrer Handlungsorientiertheit pädagogisch ausgerichtet.

 

Obwohl die Briefe an Lucilius, einem jüngeren Freund Senecas, gerichtet sind, will Seneca darüber hinaus eine größere Leserschaft ansprechen und sogar die Nachwelt. Der lehrhaften Tendenz der Briefe entsprechen die zahlreichen Sentenzen mit zeitlos gültigen Einsichten und Regeln. 

 

Der Rückzug ins Privatleben

Die politische und gesellschaftliche Situation hatte sich in der frühen Kaiserzeit durch Palastkämpfe, Verschwörungsversuche und politische Morde so verändert, daß eine Mitarbeit im Staat nicht mehr möglich war. Es herrschte ein Atmosphäre von Angst und Terror. So verlagerten sich die Themen der stoischen Philosophie hin zur Innerlichkeit, zur moralischen Festigung des Individuums gegen die Bedrohung von außen. So wird die Philosophie zur geistigen und seelischen Kraftquelle, zum Mittel zur Festigung des inneren Widerstands. Werte finden sich innen in der Seele des Menschen, Vervollkommnung war nur als Vervollkommnung des Innerlichkeit denkbar. Das Interesse am Kosmos und an der Natur verringert sich zugunsten der existentiellen Befindlichkeit der Einzelperson. Glück in einer Welt des Unrechts und der Willkürherrschaft ist nur in der Innerlichkeit erreichbar. Äußerlichkeiten werden belanglos. 
 
 

Senecas Philosophie in Grundzügen

(nach: Abituraufgaben GK Bad.-Württ., S. 13, Stark-Verlag)

Seneca ist ein Vertreter der jüngeren Stoa (50-150 n.Chr.)

Die politische und gesellschaftliche Situation hatte sich in der frühen Kaiserzeit so verändert, daß eine Mitarbeit im Staat nicht mehr möglich war. Da Staat und Gemeinschaft nach stoischer Lehre Abbild der göttlichen Weltordnung sind, hat der Mensch die Aufgabe und Pflicht, an dieser Weltordnung mitzuwirken. Cicero hatte die virtus (Tatkraft) in de re publica 1,2 als eine Eigenschaft bezeichnet, die nur in der tatsächlichen Ausübung existiert und deren vorrangiges Betätigungsfeld die Staatslenkung darstellt.

Nachdem nun für den civis Romanus ein Einsatz der virtus im Staat und eine Mitgestaltung der Politik nicht mehr möglich waren, konnte die stoische Philosophie nicht mehr Richtschnur zum politischen Handeln sein, sondern wurde zur sittlichen Richtschnur, zum Schutzinstrument gegen die Willkür und gegen den Verfall der römischen Lebens- und Werteordnung.

Da das Glück nicht mehr in der politischen Betätigung, im Einsatz für die Gemeinschaft erlangt werden konnte, mußte der Stoiker sich aus der Gemeinschaft zurückziehen, um sich gegen die Bedrohung von außen zu schützen. Die Philosophie wurde zur geistigen Kraftquelle, zum Mittel zur Festigung des inneren Widerstands, auch gegen den drohenden Tod. Da außen keine Werte zu finden waren, für die es sich einzusetzen lohnte, wurden die Werte in das Innere verlagert. Vervollkommnung war jetzt nur noch als Vervollkommnung des Innerlichkeit denkbar. Das Ziel der „ataraxia“, der Unerschütterlichkeit, blieb bestehen, nun nicht mehr nur gegen die „Bedrohungen von innen“ durch die Affekte (unvernünftige, wider die eigentliche Natur des Menschen gerichtete Bewegungen der Seele, ), sie diente jetzt vor allem dazu, sich gegen das von außen drohende Schicksal und den Tod zu wappnen.

Auch Epikur hatte den Rückzug aus der Welt propagiert, vom Staat, von den Geschäften, doch seine Motive waren andere. Höchstes Ziel für Epikur ist das Wohlbefinden des einzelnen (oder die Lust) als Freisein von Schmerz und Unruhe, ein Rückzug letztlich von allem, was die empfindlichen Seelenatome in Unruhe versetzen könnte. 

Bei der Stoa Senecas geschieht der Rückzug nicht freiwillig, sondern er ist notwendig, um nach den stoischen Richtlinien leben zu können. Er geschieht nicht um des Wohlbefindens willen, sondern ist die Voraussetzung, um die Tugend, das Sittlichgute, verwirklichen zu können. 

Die Tugend allein ist für die Stoa ein absoluter Wert, nur durch sie gelangt der Mensch zum Glück. Der Besitz der Tugend verhilft zu richtigem Urteil und gibt auch die Kraft, nach diesem richtigen Urteil zu leben. Alles andere, Leben und Tod, Hab und Gut, sind dagegen relative Werte, adiaphora. Es kommt auf die Haltung an, mit der man diese Dinge handhabt. 

Unter Seneca verlagert die stoische Philosophie ihren Schwerpunkt zur Ethik hin. Das Interesse an Kosmos und der Natur verringert sich zugunsten der existentiellen Befindlichkeit des Individuums. Im Zentrum von Senecas Philosophie geht es um die Überlegenheit des Weisen über Schicksalsschläge, Schmerz und Tod.

Die Wesensbestimmung des Menschen

(Günter Reinhart/Edith Schirok: Senecas Epistulae morales, Bamberg 1988, S. 15ff.)

Seneca unterscheidet - wie die alte Stoa - zwischen den Weisen, den Wissenden (sapientes), und den Toren, den Nichtwissenden (stulti), aber im Gegensatz zu ihr sieht er eine besondere Leistung des Menschen schon darin, sich überhaupt auf den rechten Weg gemacht und Fortschritte auf diesem Weg erzielt zu haben. Wichtiger als die Trennung in Toren und Weise ist deshalb für Seneca die Hervorhebung der voluntas als erstem entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Selbsterziehung. Am Anfang steht das Wollen, das nicht durch einen Lernprozeß erworben werden kann (ep. 81,13: velle non discitur), sondern als Anstoß in der Seele entsteht, ohne daß Seneca dafür eine nähere Erklärung gibt (ep. 16,6: impetus animi). Mit Hilfe der Philosophie entwickelt sich die bona voluntas über das rechte Wissen um alle Dinge und durch unermüdliche Anstrengung zur bona mens (ep. 16,1) oder zum habitus animi (ep. 16,6) und in höchster Vollendung zur tranquillitas animi (ep. 92,3), zu einer unerschütterlichen und unverlierbaren Haltung.

In dem Bewußtsein, daß kaum ein Mensch - schon mal gar nicht er selbst (epp. 57,3; 45,4) - dieses höchste Ziel erreichen kann, muß Seneca unter der erzieherischen Intention der Epistulae morales umso deutlicher den Wert eines proficere (ep. 16,2) hervorheben.

Allein der vir sapiens ist im Besitz der sapientia, sie allein ist ein bzw. das perfectum bonum mentis humanae (ep. 89,4). Sie bleibt wenn auch unerreichbares, so doch anzustrebendes Ziel. Die proficientes heben sich aber von den stulti entschieden dadurch ab, daß sie schon zu Freunden der Weisheit geworden sind, sie haben teil an der philosophia, einer für jeden Menschen erreichbaren Lebensform: philosophia sapientiae amor est et adfectatio: haec eo tendit quo illa pervenit (ep. 89,4). philosophia bedeutet Streben, sapientia das Ziel (ep. 89,6: illa venit, ad hanc itur). Da das Ziel des Strebens nicht mit dem Streben selbst identisch sein kann, müssen auch philosophia und sapientia unterscheiden werden. Weisheit wird definiert als divinorum et humanorum scientia (ep. 89,5), die Philosophie als studium virtutis (ep. 89,8).

Den Aussagen über die verschiedenen Stufen der Annäherung des Menschen an die sapientia und über noch vorhandene Fehlhaltungen liegen die drei Bereiche der antiken Ethik zugrunde, die Seneca (ep. 89,14) selbst vorstellt: die Güterlehre, die Lehre von den Trieben und Affekten und die Lehre vom Handeln. Vorrangig, weil grundlegend für die beiden anderen Bereiche, ist das sicherer Wissen um wahre und falsche Güter, daraus erfolgt der Antrieb zum Handeln und dann die Umsetzung in die Tat.

Die von den Menschen im allgemeinen hochgeschätzten Güter des Lebens werden als Scheingüter, die gefürchteten Übel als Scheinübel entlarvt.

Der Mensch wird arm geboren (ep. 10,13: nemo nascitur dives), also ist der Reichtum kein natürliches Gut. Zwar ist der Mensch auf Selbsterhaltung angelegt, aber das heißt nur: nicht hungern, nicht dürsten, nicht frieren (ep. 4,10). Was er dazu braucht , ist auf das Lebensnotwendige (ep. 17,9ff.) beschränkt. Völlige Einfachheit der Lebensgestaltung oder - sollte der Mensch zufällig reich sein - zumindest das Einüben der Armut durch sogenannte Fastentage (ep. 18,5ff.) hilft dem Menschen, vom Reichtum unabhängig zu werden oder sich vom möglichen Verlust nicht beeinträchtigen zu lassen. Mag Seneca auch in fast allen Bereichen mit harten Worten gegen den Luxus seiner Zeit angehen, so lehnt er doch den Reichtum nicht schlechthin ab, sondern nur den falschen Umgang mit ihm, bzw. die falsche Einstellung zu ihm. So kann der Mensch mitten im Reichtum - je nach seiner inneren Haltung - arm oder auch reich sein, wie umgekehrt auch in der Armut.

Alle äußerlichen Bedingungen, wie Armut oder Reichtum, Erfolg oder Mißerfolg, Gesundheit oder Krankheit, sind keine Güter, die in irgendeiner Form zur Glückseligkeit beitragen. Sie gehören zu den indifferentia oder media (ep. 82,10+12+14), wie Seneca den Begriff der „adiaphorains Lateinische überträgt.

Mit der Stoa unterscheidet Seneca innerhalb der indifferentia (ep. 117,9) drei Erscheinungsformen. Zur ersten Gruppe gehören die commoda (ep. 74,17), Güter, nach denen die Vernunft mit voller Absicht strebt, weil sie naturgemäß sind, wie z.B. gaudium, pax, salus patriae (ep. 66,5). Zu den incommoda (ep. 74,23) zählt er z.B. Krankheit, Folter, Verlust von Angehörigen. Sie widersprechen zwar der Natur und dem Selbsterhaltungstrieb, und der Mensch wird sie meiden, dennoch können auch sie den Glückszustand des vir sapiens in keiner Weise mindern; genausowenig wie das Fehlen der commoda (ep. 92,16). Die commoda oder incommoda sind ausschließlich unterschiedliche Erscheinungsformen von Gütern, die außerhalb unserer Verfügbarkeit liegen und damit der Entscheidungsgewalt durch die Vernunft entzogen sind. 

Zur dritten Gruppe gehören, eigentlich zwischen den commoda und incommoda liegend, die Dinge, die weder der Natur entsprechen noch ihr widersprechen, z.B. das Aussehen, der Gang, die Haarfarbe (ep. 66,5), und die in jeder Hinsicht gleichgültig sind. 

Zwar ist die Krankheit weder ein Gut noch ein Übel, wohl aber ist Standhaftigkeit im Ertragen der Krankheit ein Gut. Der Tod kann einem Menschen zum Beweis seiner Sittlichkeit dienen (Cato). Allein die ratio kann aus den wertneutralen Dingen ein sittliches Gut oder sittliches Übel machen, nämlich je nachdem, wie der Mensch mit ihnen umgeht. Bei richtiger Entscheidung und sittlichem Verhalten können die indifferentia zum wahren Gut, zum einzigen Gut, dem sittlich Guten werden.

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Die Stoa zur Frage des Todes:

 

In der stoischen Philosophie ist die sichtbare Welt nicht, wie Epikur lehrt, durch Zufall entstanden, sondern ist das Werk der göttlichen Weltvernunft, des ewigen Logos, des alles durchwaltenden göttli­chen Geistes. Da für die Stoiker nur Körperliches wirken kann, ist der materielle Träger des Logos der feinste Stoff, das Urfeuer, die Quelle der Wärme und des Lebens. Der Mensch trägt mit seiner Seele einen Funken dieses göttlichen Feuers in sich und kann deshalb die Gesetzmäßigkeit der Natur erken­nen. Der Tod ist somit nur als eine „ganz normale“ Auswirkung des Naturgesetzes im ewigen Werden und Vergehen anzusehen und stellt, da das Leben im Einklang mit der Natur das höchste Gut des Menschen ist(„secundum naturam vivere“), kein Übel oder Unglück dar. Er zählt vielmehr zu den „adiáphora“, zu den gleichgültigen Dingen, wie z.B. Gesundheit und Krankheit, Reichtum und Armut. Oft kann der Tod sogar, positiv gesehen, die Erlösung von den Leiden des Daseins sein. Hieraus leitet sich auch die Legitimation des Selbstmordes ab, der erlaubt ist, wenn der Mensch keinem mehr nützen kann oder vor allem äußere Umstände ein Leben nach der von der Natur vorgeschriebenen Bestim­mung als Vernunftwesen unmöglich machen.

Der Tod ist auch deshalb nicht zu fürchten, weil in ihm die Seele als „Funken“ des göttlichen Feuers (Logos) den Körper ohne Schmerzempfindung verläßt und sich mit dem ewigen Urfeuer wieder verbindet.

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Die Stoa

(Philosophie bei den Römern (Werner Karl), Donauwörth 19791, S. 58-63 in Auszügen)

Die alte Stoa

Zenon, der Begründer der Stoa, wurde im Jahre 333/332 v.Chr. auf Zypern geboren. Grundle­gend für seine Lehre ist die Überzeugung, daß das wahre Glück des Menschen von allen äuße­ren Gütern unabhängig sei. Durch Epikurs Wirken in Athen (seit 306) fühlte sich Zenon geradezu herausgefordert, eine eigene Philosophenschule zu gründen. Er begann seine eigene Lehrtätig­keit 301/300 in der Stoá Poikíle (Bunte Halle), einer von Polygnot bunt ausgemalten Wandelhalle am Markt, nach der die Schule ihren Namen erhielt. Trotz oder gerade wegen ihrer Sittenstrenge zog die Stoa viele junge Männer an, die nicht gewillt waren, auf der Suche nach ihrem inneren Glück den epikureischen Weg der "Lust" zu gehen.

 

Die Lehre

Physik:

Die sichtbare Welt ist nicht, wie Epikur lehrt, durch Zufall entstanden, sondern das Werk der göttlichen Weltvernunft, des Logos, der Gottheit. Da für die Stoiker nur Körperliches wirken kann, ist der materielle Träger des Logos der feinste Stoff, das Urfeuer, die Quelle der Wärme und des Lebens. Das Logos-Feuer ist die Urkraft, die vorausschauend und fürsorglich (Logos = Prónoia, Vorsehung) "zum Schaffen schreitet" (Zenon), die erste Ursache der lückenlosen Ursachenkette aller Abläufe und Bewegungen (Logos = Heimarméne, Schicksal).

Durch Verdichtung des Urfeuers entstehen die übrigen Elemente (Luft, Wasser, Erde), aus deren vielfältiger Mischung der Kosmos in seiner Schönheit und Zweckmäßigkeit hervorgeht.

Der führende Seelenteil des Weltorganismus hat seinen Sitz in der Region des himmlischen Feuers, doch durchglüht das göttliche Logos-Feuer als "Hauch" (pneuma) das gesamte All und trägt in sich die "Samenkeime" (lógoi spermatikoí), aus denen die Einzeldinge hervorgehen. Durch die ihm innewohnende Spannkraft verleiht das Pneuma selbst dem kleinsten Stein seinen Zusammenhalt.

Trotz des strengen Determinismus (Bestimmtheit allen Geschehens durch Ursachen) halten die Stoiker entschieden an der Willensfreiheit des Menschen fest: Der menschliche Logos hat die freie Entscheidung über die Annahme bzw. Ablehnung der von außen kommenden Vorstellung. Die höchste Freiheit des menschlichen Logos besteht darin, die Normen des Weltenlogos zu er­kennnen und nach ihnen zu handeln.

Mit dem Tod verläßt das Seelenpneuma den Körper und geht im All auf.

Nach Ablauf eines großen "Weltjahres" kehrt der Kosmos in das Urfeuer zurück (Weltbrand: ek­pýrosis), aus dem dann wiederum derselbe Kosmos mit denselben Individuen (Wiedergeburt: pa­lingénesis) hervorgeht. Dieser Zyklus wiederholt sich ewig (Weltperioden).

 

Ehtik:

Zur richtigen Bestimmung des menschlichen "Lebenszieles" (télos) und damit der richtigen Le­bensführung gehen die Stoiker vom Urtrieb des Menschen aus, der Oikeíosis ("Zueignung"). Sie ist der instinktive Trieb jedes Lebewesens, das als ihm "eigen" (oikeion) empfundene Wesen zu entfalten, alles zu suchen, was der Erhaltung und Förderung des "Eigenen" dient, und das Ge­genteilige zu meiden. Gesundheit, Sprechvermögen, aufrechter Gang, Gemeinschaft mit den Menschen usw. sind "das erste Naturgemäße" (ta prota katà physin). Sie sind die ersten Werte (axía), da sie einen Beitrag leisten zu dem, was der Natur des Menschen gemäß ist. Jede Handlung, die der naturgewollten Entfaltung des menschlichen Wesens dient (Essen, Pflege des Körpers, Liebe zu den Eltern usw.), ist eine "uns zukommende Handlung" (kathekon, Pflicht).

Im Gegensatz zum Tier besitzt der Mensch von Natur die Anlage der Vernunft. Sobald er sich dieser im Laufe der Jahre (bis etwa 14. Lebensjahr) bewußt wird, wendet sich die Oikeiosis der Entfaltung des Logos zu, und der Mensch erkennt das Gute in dem, was seinem wahren Wesen förderlich ist und als seine eigene Leistung ihm Genugtuung und inneres Glück verleiht.

Die Vollendung seiner Vernunftanlage ist dem Menschen nur möglich, wenn er durch richti­ge (philosophische) Belehrung und durch eigenes Streben den Kampf gegen seine Triebe und die schlechten Einflüsse von seiten seiner törichten Mitmenschen besteht. Die vollendete Vernunft, der Logos, der sich den von außen kommenden Vorstellungen gegenüber behauptet und die Triebe beherrscht, ist der bestmögliche Zustand des Menschen, seine Areté, "Tugend"(Gegenteil kakía = Schlechtigkeit, Lasterhaftigkeit). Diese naturgewollte Führung der Triebe durch den Lo­gos ist die "Harmonie der Seele" (homología). Sie ist ein Ebenbild der Harmonie und der Schön­heit des Makrokosmos. Sie ist die "Schönheit" der Seele, das "Schöne"(kalón), das "Sittlichgute". Das Sittlichgute(= Tugend) ist der höchste Wert, es ist das einzige "Gut" des Menschen und darum auch ohne Rücksicht auf den äußeren Erfolg um seiner selbst willen erstrebenswert. Das Sittlichgute allein bewirkt die Glückseligkeit (eudamonía). "Das Leben unter der Führung des Lo­gos (homologouménos zên bzw. homologouménos te phýsei zên in Übereinstimmung mit der Natur leben), die Einheit von Denken, Wollen und Handeln ist das Lebensziel des Menschen.

Besitzt der Logos nicht die nötige Stärke, so stimmt er Vorstellungen zu, die die Triebe (Gefühle, Begehrungen) wider ihr natürliches Maß übersteigern: Der Trieb (hormé) wird zum "Affekt", zur "Leidenschaft" (páthos). Die kranke, leidende Seele ist das "Sittlichschlechte", das einzige Übel des Menschen. Wer sittlich schlecht handelt, erleidet seelische Qualen. Der leidenden Seele kann nur die Philosophie helfen, deren Ziel die "Freiheit der Seele von den Affekten-Leidenschaf­ten"(apátheia) ist.

Gesundheit - Krankheit, körperliche Lust - körperlicher Schmerz, Reichtum - Armut, Ruhm - Ver­achtung usw. sind hinsichtlich des sittlichen Zieles der Glückseligkeit weder "Güter" noch "Übel". Da sie ihren Wert erst durch den Gebrauch erhalten, den der Logos von ihnen macht, sind sie an sich sittlich "unterschiedslos" (adiáphora). Dennoch werden von der Vielzahl der Adiaphora ei­nige (z.B. Leben, Gesundheit, maßvoller Besitz, Kinder) von der animalischen Natur des Men­schen "bevorzugt" (proëgména), andere (z.B. Krankheit, Armut) "zurückgesetzt" (apoproëgména). Jedoch darf das Streben nach den Proegmena das Streben nach dem Sittlichguten nicht beein­trächtigen.

Die eine Tugend kann sich in vier Kardinaltugenden zeigen: Einsicht - Klugheit (phrónesis), Selbstberrschung - Besonnenheit (sophrosýne), Tapferkeit (andreía) und Gerechtig­keit (dikaiosýne).

Das Feld des sittlich guten Handelns ist die Gemeinschaft. Ohne sie kann sich das Wesen des Menschen nicht entfalten.Da der individuelle Logos nur ein Teil der Weltvernunft ist, ist der ein­zelne Mensch Bürger der ganzen Welt (Kosmopolit). Innerhalb der Kosmopolis richtet sich sein Rang nicht nach Äußerlichkeiten (Grieche - Barbar, Freier - Sklave), sondern nach dem Maßstab des Sittlichguten. Der Logos ist das rechtsverbindliche Gesetz dieser Gemein­schaft (Vernunftrecht, Naturrecht, göttliches Recht). Dieses Vernunftgesetz ist die Quelle der po­sitiven (geschriebenen) Gesetze.

Der Weise besitzt das Wissen um das Gute und Schlechte und verwirklicht es im Leben. Er weiß von den großen Zusammenhängen des Weltgeschehens, er ist vorbereitet auf alle Fügun­gen des Schicksals. Der Logos seiner Seele harmoniert mit dem Weltenlogos. Er ist frei von allen Leidenschaften. Für ihn gibt es keine Knechtschaft: Ist ein Leben unter der Führung des Lebens nicht mehr möglich, kann er freiwillig aus dem Leben scheiden.

 

Die Stoa bei den Römern (Cicero und Seneca)

Seit Panaitios(185-109 v.Chr.) war die Stoa die bestimmende Kraft im römischen Geistesleben. Er verlagerte den Akzent vom Menschen als Kosmopolit auf den realen Einzelstaat und schenkte den gewöhnlichen Kathekonta, den Pflichten des Alltags seine besondere Beachtung. Panaitios nahm dem "Weisen" der alten Stoa seine übermenschlichen Züge und ließ ihn zum erreichbaren sittlichen Ideal für den römischen Staatsmann werden, der sich auf der Bühne des Weltreiches zu bewähren hatte. Die Eklektiker Varro und Cicero, die sich mit Vorliebe als Akademiker be­zeichneten, übernahmen stoische Lehren (Cicero u.a. die Lehre vom Naturrecht, Lehre von den Pflichten, gemischte Verfassung).

Unter den Nachfolgern des Augustus wandte sich die Stoa vom Staate ab und konzentrierte sich auf die Sorge um das persönliche Seelenheil. Zwischen den willkürlichen Ansprüchen eines ab­soluten Herrschertums und den Forderungen eines zeitlosen Sittengesetzes waren keine Kom­promisse möglich. Die innere Haltung des Stoikers äußerte sich im Falle Senecas mit dem Rück­zug aus der Politik, andere fanden Mut zur Kritik, ja zum aktiven Widerstand. 

 

 

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