Latein und Griechisch

als Grundlage der europäischen Identität

Nur wenige Schüler lernen alte Sprachen / Gegen das utilitaristische Denken

von Heike Schmoll

2.5.2000 Frankfurter Allgemeine Zeitung


Nur fünf Prozent der deutschen Bevölkerung befürworten den Philosophieunterricht in der Schule, nur vier Prozent den Latein? und Griechischunterricht. Dieses Umfrageergebnis des Allensbacher Instituts für Meinungsforschung hat die Altphilologen neben sinkenden Schülerzahlen und ständigen kultuspolitischen Erschwernisssen in die Defensive getrieben. Während sich der Lateinunterricht als dritte Fremdsprache fest etabliert hat, sinkt die An­zahl der Fünftklässler, die Latein als erste Fremdsprache lernen, selbst in den Län­dern, die bisher als Stammländer der alten Sprachen betrachtet wurden, in Baden?Würt­temberg und Bayern. Auch der Anteil der Siebtklässler mit Latein als zweiter Fremd­sprache schwindet ? freilich nicht ganz so ra­sant wie die Anzahl derer, die noch Altgriechisch lernen.

Eine Statistik über die Einser?Abiturienten in Nordbaden spricht für sich: Einen Abitur?Durchschnitt von 1,0 erzielten an den humanistischen Gymnasien 9,1 Prozent der Schüler, an den übrigen nur 2,5 Prozent, einen Abitur?Durchschnitt zwischen 1,1 und 1,5 erreichten 14,6 Prozent an den humanistischen und 7,8 Prozent an den übrigen. Die Altphilologenverbände sind klug genug, nicht im blinden Fachegoismus für ihre Interessen zu kämpfen, sondern wissen ihren Kampf für die alten Sprachen einzubetten in ein bildungspolitisches Gesamtkonzept, das alte und neue Sprachen, Naturwissenschaften, Philosophie, Literatur und Religion als Ganzes sieht. Sie kämpfen nicht etwa gegen Französisch, sondern dafür, dass Latein und Französisch zu­sammen gehören...

Die Gegner sind jene Technokraten und selbst ernannten Modernisten, die glauben, mit Effizienzfanatismus die Schulbildung reformieren zu können. Niemand wird bestreiten, dass beide alte Sprachen für das Verständnis von Fremdwörtern hilfreich sind. Jeder Absolvent eines humanistischen Gymnasiums wird jedoch ebenso schnell zugeben, dass der Lernaufwand für den auch auf anderem Wege zu erzielenden Nutzen reichlich groß ist. Zumindest erleichtere die Kenntnis der alten Sprachen das Lernen romanischer Fremdsprachen erheblich, sagt der Vorsitzende des Deutschen Altphilologenverbandes, der an der Berliner Humboldt?Universität einen Lehrstuhl innehat, Friedrich Maier. Wichtiger ist ihm allerdings die kulturkonstituierende Wirkung der Antike. Europa, das sei die Bibel und die Antike, auf deren Grundlage sich europäische Identität außerhalb der wirtschaftlichen Verabredungen konstituieren müsse. Warum das ausgerechnet durch zwei nicht leichte, tote Sprachen geschehen soll, fragen die Gegner dann.

Lehrer unter Rechtfertigungsdruck

Das mikroskopische Lesen der alten Texte fördere nicht nur die Kenntnis der eigenen Muttersprache, sondern auch die Fähigkeit, sich in den anderen, zunächst ganz fremd erscheinenden Erzähler hineinzuversetzen, also die Dialogfähigkeit. Das Ziel eines altsprachlichen Unterrichts sei nicht die Übersetzung eines Textes, sondern dieses übergreifende und prägende Verständnis...

Wie sehr die Lateinlehrer unter Rechtfertigungsdruck stehen, hat sich in Marburg [Tagung des Altphilologenverbandes] in einer Vielzahl von Arbeitsgruppen gezeigt, die Internet, Computer?Lernprogramme, Rollenspiele, spielerisches Lernen, Kreuzworträtsel und allerlei neue Methoden in den Unterricht einbeziehen wollen, um die Schüler zu motivieren und endlich den Ruf des verstaubten Frontalunterrichts abzustreifen. Es gibt attraktive Lateinbücher in Hülle und Fülle, die Abbildungen sind far­big. Um das Formenlehren kommen allerdings auch heutige Schüler nicht herum, doch es wird ihnen wesentlich erleichtert, etwa durch griechische Grammatiktabellen in neuer Aufmachung (Hellas, C. C. Buch­ner?Verlag).

Methodenvielfalt ist gut, jeder lehrerzentrierte Unterricht bezieht Schülerarbeitsphasen mit ein, auch mag es schon sein, dass Vokabelkarteien und Wettspiele Sorgfalt und Lernbereitschaft fördern, doch die Methodenbegeisterung steht auch bei den Altphilologen durchaus in Gefahr, die Inhalte durch die Motivation zu ersetzen. Selbst ein Fürsprecher der didaktischen Abwechslung, der an die zwanzig Unterrichtsspiele zu präsentieren wusste, musste in Marburg eingestehen, dass die Unterrichtsziele zugunsten der Motivation in den ersten anderthalb Jahren nicht erreicht würden. An seiner Schule ist er dennoch in der ungewöhnlichen Lage, seine didaktischen Überlegungen mit fünf weiteren Kollegen (in einem Durchschnittsalter von 34,5) Jahren zu teilen...
 

 

Zugang zur Welt der Bildung

In Baden?Württemberg hat der Mindestgruppengrößenerlass aus dem Jahr 1993 dazu geführt, dass das Fach Latein aus der Unterstufe an manchen Orten völlig verdrängt wurde. Nach dieser Verwaltungsvorschrift sind Unterrichtsangebote in der ersten und zweiten Fremdsprache dann zu streichen, wenn die Mindestschülerzahl von 16 in zwei aufeinander folgenden Jahren nicht erreicht wird. Der baden?württembergische Altphilologenverband verweist darauf, dass im Oberschulamtsbezirk Freiburg 1993 noch 61 Gymnasien Latein als erste oder zweite Fremdsprache anboten, im Jahre 1998 jedoch nur noch 48. In diesem Oberschulamtsbezirk sei außerdem die Kombinierbarkeit von Latein und Französisch reduziert worden. berichtet der Vorsitzende des Verbandes, Meißner. Die Mindestgruppengrößen führten nicht nur zu einer Streichung des altsprachlichen Unterrichtsangebots, sie höhlten den Unterricht auch gleichsam von innen aus, indem sie den falschen Anreiz gäben, Lerngruppen gewaltsam aufzufüllen, ohne Rücksicht auf Begabung und Erfolgschancen der Schüler.

Die Abneigung sozialdemokratischer Bildungspolitiker gegenüber den alten Sprachen lässt allmählich nach, weil sie diese als Möglichkeit des Chancenausgleiches entdecken. Denn viele Schüler aus mittleren und unteren Bildungsschichten haben den Lateinunterricht als entscheidenden Zugang zur Welt der Bildung erlebt...

Die wachsende Bereitschaft, moderne Fremdsprachen schon in der Grundschule einzuführen, senkt die Motivation vieler Eltern, ihre Kinder trotzdem mit Latein beginnen zu lassen und die in der Grundschule ge­ernte Sprache zunächst nicht fortzuführen, Um diesen Bedenken zu begegnen, gibt es in Baden-Württemberg inzwischen 15 Gymnasien, die Latein und Englisch in Klasse 5 anbieten. Das traditionsreiche Eberhard­Ludwigs-Gymnasium in Stuttgart konnte auf diese Weise seine Anmeldezahlen mehr als verdoppeln.

Auch die Grundschulen bringen den altsprachlichen Gymnasien nun mehr Sympathie entgegen. Latein? und Englischunterricht förderten ganz unterschiedliche, sich ergänzende Fähigkeiten des Kindes, die sich im Alter zwischen 10 und 12 Jahren besonders wirksam fördern ließen, argumentieren die Pädagogen. Der Absolvent eines humanistischen Gymnasiums, der kaum moderne Fremdsprachen beherrscht, gehört ohnehin der Vergangenheit an. Die meisten lernen Latein, Englisch, Griechisch, von der zehnten Klasse an als Arbeitsgemeinschaft Französisch und stellen ihre Sprachfähigkeit auf die Probe, indem sie sich auf Klassenreisen nach Italien oder Griechenland in halbjährigen Intensivkursen an der Schule mit Italienisch und Neugriechisch vertraut machen. Wem das alles noch zu wenig ist, der kann ei­e Woche lateinisch sprechen und römisch kochen (Hierzu: Piper Salve, Cursus Vivae latinitatis, Klett). Dazu kommen Lateinbegeisterte aus allen europäischen Ländern nach Amöneburg bei Marburg und führen sich neben Rezepten jenes lebensnahe Latein zu Gemüte, das sie in ihrem Schulunterricht nie kennengelernt haben.